Jedes Berufsbild hat mit seinen Klischees und Vorurteilen zu kämpfen – beim Arbeitsmodell der Ortsunabhängigkeit ist das nicht anders. Die folgenden zehn Annahmen hören wir immer wieder über Remote-Work:
1.) Du bist doch bestimmt den ganzen Tag am Strand!
Tatsächlich ist das eines der Bilder, das wohl in den Köpfen der meisten Menschen am schnellsten aufkommt, wenn sie an ortsunabhängige Menschen denken.
Zwar spuckt Google einige Quellen aus, die einheitlich sagen “Nein, das stimmt so ja gar nicht.” – aber versuchen wir doch mal ganz sachlich und argumentativ darzulegen, wieso das nicht stimmt (denn dieses Bild ist rein pragmatisch betrachtet ziemlich fernab der Realität). Viele Menschen lieben den Sommer und die damit verbundenen Zwanzig bis Vierzig Grad Celsius über alles. Wenn man die Qual der Wahl hat und sich selbst als Sonnenanbeter versteht, dann gibt es dank Ortsunabhängigkeit ja deutlich weniger Gründe, in der nasskalten Dunkelheit zu überwintern. Aber:
Am sommerlichen Strand ist es heiß. Und was einem als Mensch nach einer Weile zu schaffen macht, findet die heilige Technik schon gar nicht witzig. Bei 31 Grad im Schatten der Kokospalme (die man vor dem geistigen Auge hat). überhitzen unsere lebensnotwendigen Geräte nämlich nach einer vergleichsweise kurzen Zeit – das war’s dann mit dem Arbeiten!
Sonnenlicht – Sonnenlicht macht die Seele glücklich und außerdem muss man die Bildschirmhelligkeit so hoch stellen, dass der Akku dahinschmilzt wie das Eis in der Caipirinha, die man während der Arbeitszeit auch nicht trinkt. Wenn dann noch die romantischen Palmenschatten über das Display tanzen, fühlt man sich nicht wohl, sondern möchte schreien und drinnen arbeiten, wo es gleichförmiges Licht hat und man sich wenigstens konzentrieren kann.
Sand – Wie schön, wenn man das erste Mal aus den FlipFlops heraus und in den warmen Sand springt. Ein tolles Gefühl, Sand zwischen den Zehen zu haben! Urlaubs-Feeling pur. Nicht so toll ist es, wenn man den Sand dann wieder aus der Tastatur, den unterschiedlichen Steckern und sonstigen Ritzen kriegen soll, da die Buchstaben und Zahlen alle klemmen und die Kopfhörer und Ladegeräte nicht mehr funktionieren. Sand ist überall! ÜBERALL!!

2. Bist du auch irgendwann mal nicht im Urlaub?
Ist man dann erst einmal eine Weile Ortsunabhängig, stehen einem bei diesem Satz gleich mehrfach die Haare zu Berge.
Erst einmal ist “den Ort wechseln” ja nicht gleichbedeutend mit “im Urlaub sein”, das ist eine vollkommene Verkennung der Situation. Zweitens gibt es viele Ortsunabhängige, die nicht halb so viel reisen, wie man vielleicht glaubt.
Szenario 1: Arbeitet man selbstständig und ist ortsunabhängig, dann hat man konstant die Sicherung der eigenen Existenz im Hinterkopf (wie das eben so ist in der Selbstständigkeit und im Unternehmertum) – erfahrungsgemäß machen viele Selbstständige deutlich weniger Urlaub als Festangestellte in Deutschland, denn erzählt man einem Selbstständigen etwas von bezahltem Urlaub, wird er je nach Auftragslage wohl eher gehässig lachen oder frustriert einfach gar nichts mehr sagen (und innerlich hysterisch kreischen). Da so etwas wie Arbeitsschutz in der Selbstständigkeit auch eher ein Unwort ist, über das man frotzelt, arbeiten die meisten auch deutlich mehr als durchschnittlich acht Stunden pro Tag an nur fünf Werktagen.
Szenario 2: Arbeitet man mit einer Festanstellung ortsunabhängig, so hat man (wie jeder andere angestellte Bürger auch) eine bestimmte Anzahl von Urlaubstagen pro Kalenderjahr zur Verfügung. Diese Anzahl reicht normalerweise eher nicht aus, um immer im Urlaub zu sein.
Darüber hinaus sind unserer Erfahrung nach digitale Nomaden auf mehrjähriger Dauerreise auch unter den Ortsunabhängigen eher die Paradiesvögel. Viele Ortsunabhängige haben eine Home Base, zu der sie regelmäßig zurückkehren, oder verfolgen ein wetterabhängiges Hobby wie Kitesurfen oder Snowboarden, haben vielleicht Freunde oder Familie im Ausland – kehren aber sonst am Liebsten an den Ort zurück, an dem sie sich verwurzelt fühlen. Teilweise monatelang.

3.) Ortsunabhängige haben keinen vernünftigen Job und arbeiten nicht richtig.
Schließlich ist es per Definition nicht möglich, den eigenen Aufenthaltsort gut zu finden und zu arbeiten? Oder gibt es ein physikalisches Gesetz, das besagt, dass Gehirne a) nur innerhalb der eigenen Landesgrenzen und b) nur in gewerblich angemieteten Räumlichkeiten entsprechende Leistungen vollbringen können?
Die Arbeit eines Kundenbetreuers erfordert doch nicht weniger Sorgsamkeit, nur weil man die geographischen Koordinaten des Laptops verändert. Der Steuerberater in Deutschland will auch dann die Kreditkartenabrechnung ordnungsgemäß einbuchen, wenn im Vorgarten Mangos wachsen und keine Geranien.
Wir kennen ortsunabhängige Geschäftsführer, Kundenbetreuer, Entwickler, Verwaltungsmitarbeiter, Marketer, Designer, Grafiker, Autoren, Übersetzer, Ingenieure, Unternehmensberater, Fitnesstrainer, etc. Die Berufsbilder sind vielfältig. Würden all diese Menschen nicht richtig arbeiten, wären sie wohl eher arbeitslos, denn jeder Lebensstil kostet Geld. Auch der ortsunabhängige. qed
4.) Ja, aber wenn man überhaupt arbeitet, dann geht es sowieso bloß um ein bisschen Instagram und passives Einkommen.
Dass digitale Berufsgruppen schon etwas weiter sind, was ihre Auftritte in den sozialen Medien angeht, streiten wir definitiv nicht ab. Oft haben sie erkannt, dass man wohl einen Teil der Kapazität in die eigene Repräsentativität in den sozialen Medien stecken sollte. Dass “ein bisschen Instagram” aber nicht reicht, wenn am Ende Geld rauspurzeln soll, wird auch jede drittklassige Marketing-Abteilung so bestätigen. Auch passives Einkommen erzeugt man nicht kurz nebenher, das erfordert Fleiß, Disziplin und ein Quäntchen Glück. Ganz so einfach ist es nicht. Vor allen Dingen muss man Zeit und Energie reinstecken und dran bleiben, so wie bei allen anderen Berufen auch.
5.) Aber dann arbeitet man nur so viel, dass man sich den Billigflug an den nächsten Ort leisten kann.
Dass nicht jeder sich einen Emirates-Flug leisten kann ist sicherlich richtig, aber trotzdem haben wir hier Einwände: auch die meisten ortsabhängigen Menschen vergleichen Flugpreise und entscheiden sich gerne für die Variante die ihrer Meinung nach das idealste Preis-Leistungsverhältnis verspricht. Ryanair wird schließlich nicht an den wilden Horden der verarmten digitalen Nomaden reich, die alle nach Chiang Mai fliegen.
Lebt man nach einem Budget, das in irgendeiner Art und Weise gedeckelt ist, arrangiert man sich dementsprechend. Fliegt man häufiger, ist das ungefähr so aufregend wie Bus fahren – und auch da lohnt sich der Vergleich zu den ortsunabhängigen Artgenossen. Es entscheiden sich die wenigsten Bundesbürger für den Luxus-Reisebus, sondern fahren von Ulm nach Regensburg oder sonst wohin mit der günstigen grün-orangenen Holzklasse.
Und das Geld muss mindestens noch für das TukTuk an das vorab bezahlte airbnb reichen. Ausreichend Geld für ein, zwei Tage Essen wäre auch gut. “Kreditkarte regelt!”, munkeln da manche. Wir nennen keine Namen.
6.) Ortsunabhängige überarbeiten sich ständig.
Hm, also das trifft es wohl schon eher für viele Ortsunabhängige. Wer die Arbeit überall dabei hat, tut sich fast zwangsläufig schwerer damit, abzuschalten. Stressige Projekte und Deadlines interessiert es nicht, wo man ist. Projekte müssen gestemmt und die Arbeit muss gemacht werden, egal wie verlockend es draußen zugeht. Ohne eine gehörige Portion Disziplin sind beide Enden des Spektrums verlockend – zu wenig zu machen und es schleifen zu lassen, oder zu viel zu machen und sich zu verausgaben. Je nachdem, wie man eben gestrickt ist. Aber dass die Ortsunabhängigen in den Coliving-Spaces dieser Welt auf der faulen Haut liegen und ständig die Umgebung erkunden kann man beim besten Willen nicht behaupten.

7.) Das ist ja eine komische Phase mit deiner Ortsunabhängigkeit.
Früher ging man backpacken in Indien oder schloss sich zeitweise einer Hippiekommune an, fuhr einfach so nach Ost-Berlin und heutzutage wird man mal ortsunabhängig, wenn man sich die Hörner abstoßen muss und ein bisschen um die Welt reisen möchte? Hm. Dabei ist Ortsunabhängigkeit aus vielen Gründen ein potenziell deutlich nachhaltigerer Lebens- und Arbeitsstil. Aber Unverständnis ist ein ständiger Begleiter im Kontakt mit Menschen, die es anders machen. Auch fehlende Vorstellungskraft. Dass manche Ortsunabhängige beispielsweise von Zuhause arbeiten, weil so zwei Partner ein Einkommen nach Hause bringen und immer jemand da ist, wenn die Kinder vom Kindergarten oder von der Schule zurück nach Hause kommen, haben einige Menschen gar nicht auf dem Schirm. Das Spektrum ist riesig. Und gestaltet man die Ortsunabhängigkeit nah an den persönlichen Bedürfnissen, gibt es keinen Grund und keine Notwendigkeit, sie jemals wieder aufzugeben.
8.) Ortsunabhängigkeit, aha, also ein digitaler Nomade.
Nein. Einfach nein. Dazu findet ihr schon einen ganzen Artikel auf unserem Blog. Dauerreisende ohne festen Wohnsitz gibt es durchaus auch, aber sie machen tatsächlich nur einen Teil der Ortsunabhängigen aus. Oder aber:
Ortsunabhängigkeit, aha, also ein Freelancer.
Auch nicht. Selbstständigkeit bzw. Unternehmertum sind zwar momentan augenscheinlich noch häufiger (das ist ein subjektiver Eindruck, den wir statistisch nicht belegen können), aber es gibt auf dem internationalen Markt eine gar nicht so geringe Anzahl an Remote Workern, die einer Festanstellung nachgehen und trotzdem ortsunabhängig sind.
9.) Du bist bist gar nicht so frei wie du denkst!
Das stimmt, nur weil man ortsunabhängig ist, ist man noch nicht frei. Ortsunabhängigkeit ist per se auch kein Allheilmittel. Es handelt sich dabei um einen Lebensstil, der seinen ganz eigenen Problemkatalog mitbringt. Vielen Menschen liegt das große Maß an Eigenverantwortung gar nicht und sie wollen auch gar nicht räumlich abgegrenzt von ihren Kollegen sein. Für manche kann Ortsunabhängigkeit sogar eine Entscheidung sein, die in die ganz falsche Richtung geht – beispielsweise, wenn man dazu neigt, sich isoliert zu fühlen oder man einfach nur vor irgendwas flüchtet.
Manchen Menschen liegt der ortsunabhängige Problemkatalog aber andererseits besser als der ortsabhängige. Es ist ja nicht damit getan, dass man in manchen Entscheidungen (wo will ich leben, und wie lange?) vom Chef weniger reglementiert wird.
Ortsunabhängige haben manche Probleme nicht: Dir gefällt es in deiner Stadt nicht? Dann geh doch. Du würdest gern Spanisch lernen? Dann flieg doch im Winter ein paar Monate nach Mexiko. Wo ist das Problem? Mach es doch einfach. Flug buchen, Unterkunft suchen und los geht’s. Wieso denkst du so viel, mach es doch einfach.
Das ist natürlich eine haarsträubende und extrem frustrierende Aussage für jemanden, der pro Kalenderjahr mit 30 Urlaubstagen ausgestattet ist und beispielsweise in Düsseldorf seinen Wohnsitz und die Arbeit hat. Bei anderen Problemen ist es genau andersrum, die versteht man erst, wenn man selbst so lebt. Dazu gehören beispielsweise die nächsten beiden Punkte:

10.) Ortsunabhängigkeit macht beziehungsunfähig und einsam
Ganz so plump kann man es vielleicht nicht sagen, aber es ist sicherlich viel Wahres in dieser Aussage. Nicht jeder Ortsunabhängige ist oder wird beziehungsunfähig, aber natürlich ist den meisten eine gewisse Abenteuerlust gemein. Je nachdem wie stark diese Abenteuerlust ausgeprägt ist, kann eine Beziehung mehr oder weniger schwierig werden und unter der Ortsunabhängigkeit eines Partners leiden – beispielsweise, wenn der ortsabhängige Partner ständig mit dem Fernweh des Partners konfrontiert ist und das Gefühl hat, es geht der anderen Person immer dann am Besten, wenn sie weg ist. Oder aber man lebt die Ortsunabhängigkeit nur des Partners wegen nicht aus.
Ist man alleine und nicht unbedingt an ein stetes soziales Umfeld angebunden (entweder weil man reist, oder aus irgendeinem einem anderen Grund auch vor Ort Zuhause) kann der Faktor Einsamkeit aber wirklich auftreten. Dessen muss man sich bewusst sein.
Natürlich wird es nicht langweilig, wenn man viel unterwegs ist, aber Beziehungen, egal welcher Natur, entwickeln sich eher nicht von heute auf morgen und benötigen Zeit und Pflege. Geht man zu schnell wieder, bleibt man gezwungenermaßen meistens sehr weit an der Oberfläche – damit muss man umgehen können.
11.) Reisen wird langweilig
Ja und nein. Natürlich ist ein neuer Ort immer etwas tolles und man kann viel Neues entdecken. Aber natürlich ist es anders, wenn man routiniert die Orte wechselt und man ist lange nicht so geflasht vom neuen Aufenthaltsort, wenn man sowieso alle 8 – 12 Wochen woanders ist. Irgendwann hat man dann den Dreh raus und wird auch beim Reisen etwas betriebsblinder, damit es effizient wird: Wo kann ich schlafen und duschen, wo kann ich essen, wo ist der Supermarkt, wie ist das WiFi-Passwort, was will ich unternehmen und wann habe ich dazu Zeit?
Das ist nicht ganz so romantisch, wie wenn man einmal im Jahr den Jahresurlaub antritt auf den man sich monatelang gefreut hat.
Eine gewisse Entwertung geht damit also auf jeden Fall einher.
Haben wir Klischees vergessen, die ihr im Kopf habt, oder mit denen ihr euch selbst rumschlagen müsst? Dann hinterlasst uns einen Kommentar oder schreibt uns eine Nachricht – das würden wir wirklich gerne wissen!