Habt ihr euch schon mal Gedanken darüber gemacht, dass Ortsunäbhängigkeit (oder Remote Work, wie auch immer man es nennen will) es vielleicht als erstes Arbeitsmodell geschafft hat, einen hochemotionalen Hype auszulösen? Es ist schwer vorstellbar, dass jemand eine ähnliche Begeisterung aufbringt, wenn man unter seinen Freunden eine Diskussion über Schichtmodelle, 9-to-5, oder sogar HomeOffice startet.
The 4-Hour Work Week sei Dank; da hat Timothy Ferriss es geschafft, große Sehnsüchte zu schüren und seiner Zielgruppe vordergründig vorzurechnen, wie einfach das alles ist. Und mittlerweile findet man an jeder Internet-Ecke jemanden, der einem zu wirklich erschwinglichen Preisen alles beibringt, damit man in die Welt losziehen und endlich aus dem Hamsterrad ausbrechen kann. Zack, zack. Einfach so. Ein paar Tage Kurs, ein bisschen fleißig sein und Ted Talks gucken, mal drüber nachdenken, was man im Leben will und einen coolen Rucksack mit unerahnt großem Volumen bestellen. Kurz alles verkaufen und los geht die wilde Fahrt. Und schaut man sich an, was coole social media-aktive Weltenbummler so treiben, sieht das auf den ersten Blick auch alles authentisch aus. Nicht nur gibt es aufregende IG Stories von überall auf der Welt, sondern oft auch noch einheitliche Lightroom-Sets auf dem Profil. Ein Augenschmaus.
Vielleicht ist es wichtig, von Anfang an etwas klar zu stellen:
Wir sind große Fürsprecher der Ortsunabhängigkeit. Ganz offensichtlich, denn wir leben das ja voller Überzeugung. Die meisten von uns fühlen sich extrem gestresst und beklommen, wenn sie sich vorstellen, sie müssten jeden Morgen zu einer festen Uhrzeit am selben Ort auftauchen und wären in ihrer Freiheit auch nur minimal eingeschränkt.
Es ist ja sogar so, dass wir es wahnsinnig wichtig finden, dieses Arbeitsmodell im deutschsprachigen Raum viel stärker zu etablieren und ein Exempel zu statuieren. Es funktioniert. Es funktioniert wirklich gut. Da liegt ein großes Potenzial und viel zu wenige schöpfen es aus.
Das Problem ist: Es widerspricht unseren Ansprüchen an uns selbst, nur einseitige Propaganda zu betreiben. Jede Medaille hat zwei Seiten. Jede.
Eine gute Entscheidung kann man nur dann treffen, wenn man genug Information hat, um überhaupt irgendwas abwägen zu können. Alles andere fällt eher unter die Kategorie „erfolgreiches Marketing“.
Denn unterscheiden muss man:
Ortsunabhängigkeit ist definitiv ein Arbeitsmodell, das mehr Freiheit bietet.
Ortsunabhängigkeit ist kein Heilmittel und nicht die Rettung.
Ortsunabhängigkeit bedeutet nicht, dass alles besser wird.
Ortsunabhängigkeit bedeutet nur, dass sehr vieles anders wird.
Ortsunabhängigkeit ist ein Arbeitsmodell, unter dem Menschen auch leiden können.
Zu denken, dass Ortsunabhängigkeit eine Problemlösung ist, ist genauso sinnvoll wie an den Weihnachtsmann, oder an Einhörner zu glauben.
Versuchen wir es mit diesem Vergleich: Wenn ein Fisch denkt, sein Teich sei zu klein, ist es selbstverständlich naheliegend, dass er von einem größeren Teich träumt.
Ist der Fisch aber eigentlich mit sich selbst unglücklich, dann hilft es auch nicht, wenn man ihn in einem riesigen Ozean aussetzt. Der Fisch ist ja immer noch derselbe Fisch, also ist er fortan erstens mit sich selbst unglücklich und zweitens hat er jetzt auch noch seine äußeren Orientierungspunkte verloren.
Frage: Wie geht es dem Fisch?
Das erklärt auch, warum leider noch viel zu wenige Ortsunabhängige über die dunkle Seite ihrer großen Freiheit reden – die Wurzel „des Bösen“ liegt nämlich oft eher im Privaten als im Arbeitskontext. Nun sieht natürlich jedes Privatleben anders aus, was es unmöglich macht, eine allgemeingültige Aussage zu treffen. Dass man nicht mit seinen privaten Angelegenheiten hausieren geht, ist menschlich – egal wie aktiv man vielleicht auf seinen Social Media-Profilen ist (oder wirkt). Niemand hat es besonders gerne, die dunkelsten Ecken des eigenen Innersten oder die tief verankerten Selbstzweifel nach außen zu kehren. Es gibt Punkte, an denen wir uns alle unglaublich verwundbar fühlen und die wir mit niemandem teilen wollen.

Ruft euch in Erinnerung, dass ihr niemals das volle Bild bekommt. Von einer subjektiven
Person kann man auch kein objektives Bild über einen Sachverhalt bekommen, zu dem diese
Person eine subjektive Meinung hat. Das geht einfach nicht. Es schließt sich per Definition aus.
Egal wie sehr euch alles inspiriert, was ihr da in der weiten Welt des Internets über digitale Nomaden, Ortsunabhängigkeit und Weltenbummelei findet – es ist ein Ausschnitt. Und zwar derjenige Ausschnitt, den diese Personen bewusst zeigen wollen.
Oft ist dieser Content außerdem thematisch gefiltert (Hey Siri, was ist eine Buyer Persona?) und nachbearbeitet, es gibt einen Content-Redaktionsplan und Interaktions-Strategien.
Eben Marketing.
Das ist ja nicht schlimm, nur verdrängen sollte man es auch nicht.
Was man sich allerdings klar machen sollte:
Mit viel Freiheit kommt auch viel Verantwortung, insbesondere gegenüber sich selbst. Genauso wie einen niemand davon abhalten wird, morgen ans andere Ende der Welt zu fliegen und glücklich in einer minimalistischen Hütte am Strand zu leben, wird einen auch niemand davon abhalten, ein depressiver Workaholic zu werden.
Natürlich muss ich nicht mehr morgens um 8 Uhr im Büro auftauchen und in dieselben angeödeten Gesichter schauen. Dass man fortan weniger Leistungsdruck haben wird, ist allerdings nur bedingt richtig, denn vor hausgemachtem Leistungsdruck (besonders wenn man zu Perfektionismus neigt) schützt einen keiner mehr. Und schon gar nicht, wenn man sich selbstständig macht, denn möglicherweise ist man zu sich selbst ein tyrannischer Chef, der sich null für Arbeitsschutz interessiert. Das ganze Leben läuft fortan unter einem neuen Banner:
Rigorose. Kompromisslose. Eigenverantwortung.
Da hilft nur, die Dinge zu durchdenken und konsequent die eigenen Grenzen zu respektieren. Man sollte kontinuierlich an sich selbst arbeiten. Das fällt nicht allen Menschen leicht, ohne dabei in eine gedankliche Abwärtsspirale zu driften. Es ist ja auch nicht leicht.
Nachdem man sich nun also vorgestellt hat, wie schön und flexibel das Leben insbesondere als digitaler Nomade wäre, sollte man sich zügig die Frage stellen, ob diese Art der
Ortsunabhängigkeit vielleicht das Potenzial hat, Öl ins Feuer der eigenen Ängste zu kippen. Neigst du beispielsweise zu Existenzangst? Dann solltest du dich schleunigst mit Ungewissheit anfreunden. Läufst du schnell Gefahr, dich isoliert und einsam zu fühlen? Dann ist es vielleicht eine Option, mit dem Partner zu reisen. Aber was tust du, wenn dein Partner nicht mitkommen kann oder will? Gehst du dann alleine? Und wenn du gehst: wie geht es dir, wenn du Wochen, oder monatelang lang keine vertrauten Menschen um dich hast? Wie ist es für dich, wenn es fast ausschließlich Chatfenster und Videocalls gibt? Hast du ein großes Planungsbedürfnis? Auch daran wirst du arbeiten müssen, denn du nimmst ja gerade zahlreiche Unbekannte mit in die Gleichung auf, die nicht kalkulierbar sind.

Ein ortsunabhängiges Leben ist genau das, was du willst.
Wenn du weißt, was du willst.
Auf einer Skala von „Home Office“ bis „Digital Nomad“ kannst du dich jederzeit einordnen, wo dumöchtest. Und wenn es dir nicht mehr passt, dann mach es eben anders. Aber keiner wird dir sagen, wie du es machen sollst. Das musst du selbst wissen. Bei genauer Betrachtung macht es einen Unterschied, ob man weiß was man will oder ob man nur weiß, was man alles nicht will. Sobald sich alle Handlungsoptionen vervielfachen und die Möglichkeiten nahezu unendlich sind, ist letzterer Ansatz nicht mehr zielführend und man muss sich geistig von Grund auf neu sortieren. Das ist ein toller Prozess, aber er frisst geistige Kapazitäten. Und dann kann das Bedürfnis nach Tapetenwechsel und etwas Neuem schnell in Überforderung und Entwurzelung umschwingen, weil man so viele Eindrücke unmöglich alle gleichzeitig verarbeiten kann.
Es ist ganz schön sportlich, wenn man gleichzeitig die Welt entdecken, sich über die eigenen Prioritäten klar werden, währenddessen arbeiten, bestehende Kontakte pflegen und neue Kontakte knüpfen will.
In jeder Krise liegt eine Chance
Muss man deshalb den Kopf in den Sand stecken und es gleich aufgeben? Auf keinen Fall. Es ist nichts schlimmes daran, instabile Elemente in der eigenen Persönlichkeitsstruktur zu haben. Niemand hat keine Probleme. Es ist aber fahrlässig gegenüber sich selbst, in die weite Welt zu rennen und da draußen auf Rettung zu hoffen, wenn man gerade labil und unglücklich ist. Das ist etwas, das wir zumindest niemals wissentlich unterstützen werden, denn auch das ist eine Frage der Nachhaltigkeit. Ortsunabhängigkeit ist mehr als deine Arbeit, es ist dein Lifestyle. In der Wahrnehmung eines Menschen verändert sich etwas Grundlegendes, wenn nur noch wenige äußere Faktoren vorgegeben werden.
Die Frage ist viel eher, wann Ortsunabhängigkeit für eine Person eine gute Entscheidung ist.
Dass man sich nach Rettung sehnt, wenn man gerade emotional auf dem Boden liegt, ist klar. Es ist aber wichtig, dass man sich zuerst um sich selbst kümmert, bevor man sich vom Boden der Tatsachen in die Lüfte schwingen und davonfliegen kann. Mit einem gebrochenen Flügel fliegt es sich nicht gut. Manchmal braucht man etwas Geduld.
Überlegt euch genau, was ihr wirklich wollt. Ärgert euch nicht nur ausgiebig über das, was ihr nicht wollt, denn daraus kann man nicht besonders gut Kraft schöpfen. Hat man sich erst mal ernsthaft ein Ziel gesetzt, ist man fokussiert, setzt die Prioritäten anders und wird sich langsam aber sicher auf dieses Ziel zubewegen.
Nehmt die Zügel über euer Leben in die Hand. Man muss auch nicht erst darauf warten, dass einem jemand anders den Traum des Remote Jobs erfüllt. Es gibt tausend Dinge und zahlreiche Baustellen, an denen man arbeiten kann, während man mit offenen Augen durch die Stellenanzeigen geht.
Und sobald der Flügel wieder heil ist, ist es Zeit für eure Bewerbung.
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von blog.julitec.com zu laden.